2017
Auswerfen der Netze – da, wo die Blätter sich färben
Reflexionen zu einer Installation von Graziella Berger im Apropos Projektraum Luzern
«In seinen tausend Honigwaben speichert der Raum verdichtete Zeit. Dazu ist der Raum da», schreibt Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raums.1 Graziella Berger verdichtet in ihrer Installation die Zeit zu mehrschichtigen Gebilden. Zeichnungen überlagern sich mit Fotografien, Raster werden zu Filtern und zum eigentlichen Bildinhalt gleichermassen. Das Motiv des Netzes ist omnipräsent, gleichzeitig aber auch das Durchscheinende, das Diaphane. Was zunächst offensichtlich erscheint, gerät beim genauen Hinsehen zu einer facettenreiche Tiefe, die mit den Blicken der Wahrnehmung spielt. Die Luzerner Künstlerin wirft ihr Netz aus, um die Oberflächen einzufangen, sie auszustellen und hinterfragt sie und ihre Materialität dadurch. Die in der Galerie in einer gekippten Pyramide gehängten Zeichnungen, Digitalprints und Fotografien zeigen dies eindrücklich. Die Betrachterin muss genau hinsehen, ob sich hinter der Oberfläche das zweidimensionale einer Fotokopie befindet oder die Haptik verschiedener Papiersorten tatsächlich geschichtet und dadurch plastisch ist. In den Werken ‹Greenwich I› und ‹Greenwich II› beispielsweise spielt Berger mit dieser Einnordung des Blicks wie mit der Einordnung des Meridians. Karierte, linierte, offenporige, kurz: in ihrer Haptik sehr unterschiedliche Papiere ergeben parallel aneinandergereiht eine Homogenität, die in ihrer Akkuratesse zur geordneten Struktur wird. Hermetisch bleiben dagegen verschiedene Plastiken, vom ‹Objet trouvé› aus verschiedenen Materialien, dessen ehemalige Spiegelfläche durch Paraffin ausgefüllt wurde, bis hin zu dem den Ausstellungsort dominierenden Objekt, das Berger konsequenterweise mit ‹Raumstruktur› betitelt. Es ist diese Installation, die den Betrachter zu einer Bewegung zwingt. Füllend und dominant sind die beiden MDF-Platten in dem kleinen Galerieraum an der Sentimattstrasse 6, die auf eine Flucht hin ausgerichtet am höchsten Punkt 2,10 Meter ergeben. Und auch von der Strasse durch das grosse Galeriefenster betrachtet, ist die Installation der optische Kontrapunkt zu dem sonst eher einheitlich präsentierten Œuvre.
Das Spiel mit der Wahrnehmung bildet aber bei allen gezeigten Werken Bergers die Schnittstelle der Kommunikation mit dem Betrachter. Als ob es ein Code wäre, inszeniert die Künstlerin maschen- und wabenartige Oberflächentexturen über Schichten von Blättern und Zeichnungen. Es entstehen abstrakte Muster, die nicht selten an Ornamente erinnern, die früher ja ebenfalls eine für alle zu dechiffrierende Sprache waren. Doch genau das verwehrt Berger. Ihre Texturen bleiben vor allem bei den dominanten Digitalprints hermetisch, bilden keine offen lesbare Symbolik. An einigen Stellen kreuzen sich die neuen Arbeiten mit der bei der Jahresausstellung im Kunstmuseum Luzern 2014/15 viel beachteten ‹Time Composition #I›, deren Zusammenspiel aus Fotografie und Zeichnung ebenfalls eine Interpretation von Raum als verdichteter Zeit war, in dem im Bachelard`schen Sinne «die schönen Fossilien der Dauer» eingeschrieben waren. Und im Vergleich zu ihrer letzten Ausstellung Zeichnungen mit Skulptur in der Luzerner Galerie Tuttiart im Sommer 2016 gehen die aktuellen Arbeiten Graziella Bergers deutlich einen Schritt weiter. Sie weitet beispielsweise das radikal Subjektive aus ‹Time Composition #I› zu einer freieren Assoziationsmontage. Träume, Gedichte von Paul Celan, die Legende des Tangrams und eine Hermeneutik des Eselsohrs bilden Ausgangslagen für die Erforschung einer poetischen Raumkomposition, wobei diese ganz sprichwörtlich genommen wird. Aber immer noch beschäftigt sich die Künstlerin mit Papier- und Heftstrukturen. Durchlässigkeiten, Überschneidungen und an einigen Stellen auch einfach die Leere eines Blattes zeigen die Doppeldeutigkeiten eines Alltagsgegenstandes. Indem Graziella Berger das vermeintlich zufällig Vorgefundene schichtet, zeichnet, abfotografiert und kopiert entsteht das wabenartig Neue, das sich wiederum einer konkreten Zuschreibung verwehrt.
Die Ausstellung Auswerfen der Netze – da, wo die Blätter sich färben ist von der Werkform vielfältig, doch von der Thematik her einheitlich konzipiert. Graziella Berger eröffnet dadurch einen Reflexionsraum, der unvermeidlich an die Feststellung Hugo von Hofmannsthal erinnert: «Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.»
Text: Evelyn Echle




























