Lithographien
Ausstellung: 8. – 27. Oktober 2005 druckstelle / werkstatt für lithographie
Ein rhizomatischer Auftakt zu einem ‚work in progress’.

Der Begriff Rhizom stammt aus der Botanik und steht für ein System das „vielwurzelig“ verflochten ist, bzw. bezeichnet ein „nicht hierarchisches Wurzelgeflecht.“ Der Begriff wurde von Deleuze/Guattari in die Philosophie adaptiert und meint ungefähr:

«Das Rhizom ist ein nicht zentriertes, nicht hierarchisches und nicht signifikantes System ohne General, organisierendes Gedächtnis und Zentralautomat, es ist einzig und allein durch die Zirkulation der Zustände definiert.»1) –– «Im Unterschied zu den Bäumen und ihren Wurzeln verbindet das Rhizom einen beliebigen Punkt mit einem anderen; jede seiner Linien verweist nicht zwangsläufig auf gleichartige Linien, sondern bringt sehr verschiedene Zeichensysteme ins Spiel und sogar nicht signifikante Zustände (états de non-signes). 2)

Als ich im Mai (2005) angefragt wurde, in der druckstelle eine Edition von Lithografien zu realisieren, stellte sich für mich die Frage, wie will ich mit dem mittlerweilen reinen Künstlerdruckverfahren das neben dem Holzschnitt oder der Radierung im profanen Alltag keine wesentliche Rolle mehr spielt, umgehen. So entstand früh die Idee, dieses Edeldruckverfahren in irgendeiner Art und Weise mit dem profanen Alltag zu verbinden. Ich entschied mich anstelle des gebräuchlichen Büttenpapiers für die industriell hergestellte Papiertragtasche, die neben dem alltäglichen, auch einen skulpturalen Aspekt beinhaltet.

Die „Tüte“ ist ein Verpackungs-, ein Transportmittel, in das man aber in den meisten Fällen nicht hineinsieht. Man hat etwas, aber man zeigt nicht, was genau. Der Inhalt bleibt privat, auch wenn man ihn in der Öffentlichkeit mit sich herumträgt. (Meistens steht ein Label darauf, mit dem man sich vielleicht identifizieren möchte oder es ist einer der gängigen Namen einer Supermarktkette, aber was kann man dort nicht alles kaufen).

So wirft sich die Frage auf, welche Inhalte ich lithographisch auf die Tüte bringen kann, um es mit dem „Alltag“ kollidieren zu lassen. Mir schwebte ein „Identitätstausch“ vor. Ich griff zunächst auf Interviews zurück, die in einem anderen Zusammenhang (Interkulturelles Projekt: Wechselbank) mit Secondas und Secondos zu Themen wie Person, Identität, Heimat, Wurzeln und Mobilität geführt habe. Der dort geäusserte Satz: „Ich mag es wild“ entwickelte sich zu einem eigentlichen Reiz-Satz, dessen Mehrdeutigkeit mich inspirierte, ihn nach diesem Konzept auf eine Tüte zu drucken. Was dann passierte: Der Satz reagierte inhaltlich mit der „Tüte“, denn er bezieht sich nicht auf einen bestimmten Ort, dieser generiert sich stets neu.

„Ich mag es wild“, auf eine Einkauftüte gedruckt, bietet umfangreiche Assoziations- und Projektionsmöglichkeiten. Der Versuch, ähnliche Assoziationsmöglichkeiten mit Bildern zu liefern, führte ins Internet, verzückte Frauen, Fellatio etc. wobei die Bilder mittels Ausschnitten und grober Rasterung so umgeformt wurden, dass sie nicht mehr eindeutig lesbar sind – was ist wirklich da, was sieht man nur, warum sieht man das, was man sieht?

Man kehrt die „Inhalte“ (ich rede wieder von der Einkaufs-Tüte), die man so mit sich herumtragt, nicht immer gern nach aussen (in unseren Breitengraden sowieso nicht); Und vielleicht besteht die Provokation dieser Tüten u.a. darin, dass sie genau das tun, dass sie nach aussen kehren, was besser im Sack bliebe.

Wie gelingt es Bernini, die „Verzückung“ der heiligen Theresa (1646 Rom, Santa Maria della Vittoria), ausgelöst durch den „goldenen Pfeil eines Engels, welcher immer und immer wieder in ihr Fleisch gestossen wird und süsseste Wonnen zu verursachen scheint“ 3) so explizit darzustellen? Man kann sich den Kopf der Theresa gut auf der Museums-Shop-Tüte vorstellen; Während man den genau gleichen Gesichtsausdruck der Darstellerin in „angels of porn“ doch eher ungern nach aussen kehrt.

„Ist das jetzt Heimat?“, eine Frage im Zusammenhang mit Offenheit, auch in der „Öffentlichkeit“, wo ist man offen, was verbirgt man , Offenheit, Öffentlichkeit, Grenze zum Privaten, Intimen; Kunst als Zwischen- und Vermittlungsglied, Heimat, Wurzel (sind Menschen der südlichen Hemisphere wirklich offener?)

Die wuchernde mehrdimensionale Lithographie-Edition „Ich mag es wild“, ist eine Verdichtung einer visuellen oder imaginierten Kommunikation, die sowohl unsere Sinnlichkeit als auch unsere Interpretationslust, unsere Vorurteile und unseren Reiz am Verborgenen herausfordert. Die Imagination entsteht durch das banale Alltägliche, und man stellt sich immer wieder von neuem die Frage: Wo beginnt oder wo endet die Wirklichkeit?

G.B. im Sep. 2005

Literaturhinweise:
1) Deleuze/Félix Guattari, Rhizom (S.35)
2) Gilles Deleuze/Félix Guattari, Rhizom (S.34)
3) Sämtliche Schriften der hl. Theresia / Back